Jakob Kellenberger: «Putin hat sich immer unter Kontrolle»
Mit Krieg und autoritären Regimes hatte Jakob Kellenberger als IKRK-Präsident oft zu tun – erstmals in Russland. Kremlchef Wladimir Putin verkörpert perfekt, was Kellenberger als «Arroganz der Macht» bezeichnet.
«Es gibt viele autoritäre Regimes und in verschiedenen Spielarten.»
In meinem Buch (Jakob Kellenberger – Zwischen Macht und Ohnmacht, NZZ Libro) erinnert sich der ehemalige Spitzendiplomat lebhaft an seinen ersten Besuch im Kreml, am 30. März 2000 – damals wegen des grausamen Krieges in Tschetschenien:
Zuerst trifft Kellenberger den Minister für Katastrophenschutz und humanitäre Hilfe, Sergei Schoigu, den heutigen Kriegsminister. Das Gespräch beginnt nicht gut. «Schoigu erzählte mir lang und breit, was er in Tschetschenien alles mache und wie gut das dort laufe.» Kellenberger hört geduldig zu, aber nach zehn Minuten wird er unruhig. Er ist nicht nach Moskau gekommen, um sich derlei Referate anzuhören. Zudem weiss er, dass er nachher Putin sehen wird. Also fasst er den Entschluss, den Minister zu unterbrechen. Eine Gratwanderung. Er steht auf, geht auf den Mann zu, schüttelt ihm die Hand und sagt: «Herr Minister, ich möchte mich verabschieden und Ihnen gratulieren, wie Sie alles unter Kontrolle haben.» Dann schickt er sich an, den Raum zu verlassen.
«Putin hört sorgfältig zu und gibt klare Antworten, die dann auch gelten.»
Die IKRK-Mitarbeitenden erstarren und schauen ihren Chef überrascht an. Was ist denn nun los? Das gibt es ja gar nicht! «Davon erzählen sie noch heute, sie konnten es kaum glauben, aber im Nachhinein fanden es alle ziemlich gut», schmunzelt Kellenberger. Denn der Minister hält ihn zurück. Und plötzlich ist alles ganz anders. «Der Ton änderte sich. Es folgte ein ganz normales Gespräch.» War dem Minister klar, dass der Abgang ironisch gemeint war? «Ich glaube, dass er gemerkt hat, dass er mit mir so nicht reden konnte, dass es keinen Sinn hatte. Er hat gemerkt, dass ich kein Unruhestifter bin, mich nicht profilieren wollte, sondern nützlich sein konnte.»
Im anschliessenden Gespräch mit Putin verlangt Kellenberger die Aufklärung der Morde von 1996 an den sechs IKRK-Mitarbeitenden. Der russische Präsident sagt zu. Die beiden vereinbaren weiter, dass das Rote Kreuz in Tschetschenien humanitäre Hilfe für 30’000 Menschen leistet und die im Zusammenhang mit dem Tschetschenienkrieg Gefangenen besuchen kann.
Putin und Kellenberger haben sich später noch dreimal getroffen, zweimal kurz im Rahmen multilateraler Veranstaltungen, einmal zu einem längeren Gespräch unter vier Augen in St. Petersburg im Jahr nach dem kurzen georgisch-russischen Krieg von 2008. Kellenberger beschreibt den russischen Machthaber als einen wachen und offenen Gesprächspartner: «Er hat sich immer unter Kontrolle, hört sorgfältig zu und gibt klare Antworten, die dann auch gelten. Ein Ja ist ein Ja und ein Nein ist ein Nein.»
«Von Macht droht Unheil, wenn sie nicht Werten untergeordnet wird.»
Kellenberger beginnt laut über das Thema Macht nachzudenken. «Von Macht droht Unheil, wenn sie nicht Werten untergeordnet wird. Wenn Macht oder das Bedürfnis, seine eigene Meinung auch gegen Widerstand anderer durchzusetzen, grösser ist als die Achtung gewisser Werte, dann ist das ein grosses Unglück.»
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