In Nordkorea keimt der Kapitalismus


Firmen wie Hyundai errichten Sonderzonen, wo sie Jobs für 60 Dollar im Monat anbieten. Ein Besuch im Arbeitslager.

Nordkorea AufpasserPolitisch sind die beiden Korea noch immer im Krieg. Aber wirtschaftlich findet eine friedliche Invasion statt. Das Ziel ist klar: Vorbereiten und Abfedern der Wiedervereinigung. Pjöngjang macht mit, weil es Geld gibt.

Jenseits der Grenze ist es gespenstisch ruhig und leer. Wer aus dem quirligen Südkorea kommt, wähnt sich in einem surrealen Stummfilm, der in Zeitlupe abläuft. Statt Autos verkehren nur ein paar Velos und zusammengezimmerte Ochsenkarren. An jeder Wegkreuzung steht reglos ein Aufpasser in hellgrüner Uniform. Er hat dafür zu sorgen, dass sich Fremde und Einheimische nicht zu nahe kommen. In der rechten Hand trägt er eine kleine rote Fahne. Wenn er sie hebt, steht alles still. Notfalls greift er zur Trillerpfeife, um sich durchzusetzen.

Spontaner Kontakt mit der Bevölkerung ist im abgeschotteten Reich von Kim Jong Il verboten. Zu gross ist die Angst der Regierung, dass Armut und Elend den Misserfolg der stalinistischen Doktrin dokumentieren könnten. Auch Fotografieren wäre hier eigentlich verboten.

Bei der Ausreise löscht ein Beamter jedes unliebsame Foto

Vor der Einreise müssen elektronische Geräte wie Notebooks und Handys in einem Schliessfach deponiert werden. Erlaubt ist nur eine Digitalkamera ohne starkes Zoom-Objektiv. Und bei der Ausreise kontrolliert ein Zöllner jedes einzelne Bild – deshalb sind nur Digitalkameras erlaubt – und löscht auf der Stelle alle, die ihm nicht weisungskonform scheinen.

Nordkorea GrenzeDie meisten Leute sind zu Fuss unterwegs – mit Brennholz oder Reis auf dem Buckel. «Ein Fahrrad ist hier bereits ein Statussymbol wie bei euch ein Auto», sagt Ryn Jin Mi, die junge Dolmetscherin. Sie hat in der Hauptstadt Pjöngjang studiert, spricht Englisch und arbeitet für die Hyundai-Gruppe, die sich mit wirtschaftlichen Mitteln für die Wiedervereinigung einsetzt.

Eigentlich dürfte sie gar keine solchen Kommentare abgeben, aber das Regime vertraut ihr: Sie trägt einen Pin mit dem Konterfei des grossen Kim Il Sung, des Vaters des heutigen Herrschers Kim Jong Il. Ein solcher Pin steht nur langjährigen, verdienten Parteimitgliedern zu, die sich dann bei gewissen Gelegenheiten auch mit Fremden unterhalten dürfen.

Nordkorea MonumentDas Land ist seit dem Krieg 1953 geteilt. Einen Frieden gab es nie, bloss einen Waffenstillstand. Beidseits der Demarkationslinie verläuft ein zwei Kilometer breiter Streifen – die entmilitarisierte Zone, ein menschenleeres, aber mit Tausenden Minen gespicktes Niemandsland, das von Stacheldraht, elektrischen Zäunen, Videokameras, Wachtürmen und massiver Militärpräsenz gesäumt wird.

Die Grenzwächter erledigen stumm den Papierkram, vergleichen das Passfoto mit dem Gesicht und stempeln den Spezialausweis. Sie sind nicht unfreundlich, solange man sich an die Spielregeln hält. Jenseits des Stacheldrahtes, nach zehn Kilometern Fahrt, tauchen plötzlich moderne Fabrikgebäude auf: Das ist sie nun also, die Sonderzone Kaesong, eine Keimzelle des Kapitalismus im erzkommunistischen, mausarmen Nordkorea.

Den Grundstein legte vor sieben Jahren Hyundai-Gründer Chung Ju Yung. Er war hier geboren worden und zog einst als junger, mittelloser Mann mit einer Kuh südwärts. Jahrzehnte später folgte der Aufstieg zu einem der grössten asiatischen Autohersteller. Sein grösster Traum war die Wiedervereinigung. Kaesong ist sein Verdienst, genauso wie die Tourismusanlage an der Ostküste, am Fusse des Mount Kumgang, der als schönster Berg Koreas gilt und jährlich mehr als 300 000 Besucher aus dem Süden anzieht. Für die Bewilligung blätterte der Hyundai-Gründer 1998 dem nordkoreanischen Herrscher Kim 455 Millionen Dollar auf den Tisch. Und seit 2001 kassiert Nordkorea pro Besucher 80 Dollar. Ein gutes Geschäft – auch für Hyundai: «Ab 240 000 Besuchern pro Jahr machen wir Gewinn», sagt ein Manager vor Ort. Bisher wurden 370 Millionen Dollar investiert. Der Komplex umfasst mehrere Hotels und Restaurants und beschäftigt 1500 Personen, vornehmlich aus Nordkorea.

Die wirtschaftliche Invasion des Nordens kommt zügig voran

Abseits der Sechs-Parteien-Gespräche und der diplomatischen Hektik um das Atomprogramm arbeiten Unternehmen wie Hyundai, aber auch Südkoreas Präsident Roh Muu Hyun auf ihre eigene Weise längst an der Wiedervereinigung. Gegenüber CASH bezeichnete Roh den Industriekomplex Kaesong und die Tourismusenklave Kumgang als Symbole interkoreanischer Annäherung. «Verglichen mit früher ist das wie Tag und Nacht.»

«Südkorea will einer unkontrollierten Massenabwanderung vorbeugen.» – Christian Hauswirth, Schweizer Botschafter in Südkorea

Während auf dem politischen Parkett eine Wiedervereinigung noch als undenkbar gilt, liegt sie wirtschaftlich bereits in Reichweite. Die Strategie ist so einfach wie raffiniert: «Südkoreas Regierung erblickt in der wirtschaftlichen Verflechtung eine Chance, den Lebensstandard im Norden anzuheben und damit einer späteren, unkontrollierten Massenabwanderung vorzubeugen», sagt Christian Hauswirth, der Schweizer Botschafter in Seoul. Er spricht von einer «irreversiblen Entwicklung zum Nutzen beider Korea». Unternehmen aus dem Süden kaufen sich in Pjöngjang mit harter Währung das Recht, im Norden Industrie- und Tourismusanlagen mit billigen Arbeitskräften zu betreiben. Der freie Markt kommt durch die Hintertür.

«Im Jahr 2020 wird es hier mit Manhattan vergleichbar sein»

Nordkorea BaugerüstIn Kaesong haben sich – drei Jahre nach Baubeginn – bereits 22 Firmen niedergelassen, 17 weitere stecken in der Planungs- und Bauphase. Inzwischen zeigen auch ausländische Investoren Interesse, so etwa der schweizerische Schuhhersteller MBT (siehe Text rechts). Kein Wunder: Ein Quad-ratmeter Gelände ist für 46 Dollar zu haben, und die Arbeit kostet weniger als in China, nämlich knapp 60 Dollar im Monat, inklusive Sozialleistungen. Die Arbeitskräfte erhalten davon aber nur rund 8 Dollar in Lokalwährung ausbezahlt sowie weitere 30 Dollar in Naturalien, vor allem Reis. Der Rest geht als Steuern und für Sozialleistungen auf ein Konto der nordkoreanischen Regierung. Trotzdem: Wer hier arbeitet, geniesst im Bekanntenkreis ein hohes Ansehen. Ein Nordkoreaner verdient im Durchschnitt noch weit weniger. Auf den im Vergleich zu Südkorea extrem niedrigen Lohn angesprochen, sagt der Vorsitzende der Betreibergesellschaft, Kim Dong Keun, denn auch ohne Zögern: «Es gibt keinen Grund, gleich viel zu bezahlen wie im Süden. Sehen Sie sich die USA und Mexiko an. Auch dort sind die Löhne unterschiedlich.»

Die Rechnung scheint aufzugehen: Die Anzahl der Beschäftigten soll bis zur Vollendung der ersten Ausbauphase in drei Jahren von heute 12 000 auf 100 000 ansteigen. Und im Jahr 2020 – sagt der Vorsitzende – «wird es hier vergleichbar sein mit Manhattan in New York». Im Modell, das im Besucherpavillon steht, existiert sie bereits, die Millionenstadt mit Wolkenkratzern, Autobahnen, künstlichen Seen, Golfplätzen und Kongresszentren. Und draussen wird emsig daran gebaut.

Nordkorea Grafik01Parallel dazu treibt Südkorea den Bau von Strassen und Eisenbahnen bis an die Grenze – und in Kaesong und Kumgang darüber hinaus – voran. Die im Krieg zerstörten Bahnverbindungen sind bereits wieder betriebsbereit, mitsamt Bahnhöfen, Fahrplänen und Ticketpreisen. Nur der Zug von und nach Pjöngjang lässt auf sich warten. Im Süden geht wie immer alles «balli, balli». Der Norden lässt sich Zeit.

Keimzelle Kaesong

Kaesong ist ein Industriekomplex, der im Endausbau 2020 zu einer Millionenstadt werden soll. Die Sonderzone nahe des gleichnamigen nordkoreanischen Dorfes liegt zehn Kilometer von der innerkoreanischen Grenze entfernt, wird aber von südkoreanischen Managern finanziert und verwaltet. Seit dem Baubeginn 2004 haben sich dort vor allem Textil-, Maschinen- und Uhrenfirmen niedergelassen. Die Konditionen sind attraktiver als sonstwo auf der Welt: Das erschlossene Land kostet 46 Dollar pro Quadratmeter, der Minimallohn beträgt 57.50 Dollar (inkl. Sozialleistungen). In den ersten fünf Jahren sind die Unternehmen von Gewinnsteuern befreit, danach gibts drei weitere Jahre 50 Prozent Rabatt. Heute arbeiten 12 000 Personen in Kaesong. In drei Jahren sollen es bereits 100 000 sein.

Cash, 12.4.2007 (PDF)


Schweizer Investoren zögern

Der Schuhfabrikant MBT prüft eine Produktion in Nordkorea. Allerdings: Die Risiken sind gross.

Nordkorea BartholetDer Schweizer Schuhhersteller Masai Barefoot Technology – kurz MBT – überlegt sich künftige Investitionen in Nordkorea. «Wir schliessen nichts aus», sagt Produktionschef Markus Bartholet. Im Vordergrund stehe dabei die Fertigung von Halbfabrikaten durch einen Zulieferer. Letztes Jahr wurden 1,8 Millionen Paar Schuhe verkauft. Der 37-jährige Bartholet war Mitte März mit einer Delegation der koreanischen EU-Wirtschaftskammer selber in Nordkorea, um sich über die Möglichkeiten in der neuen Sonderzone Kaesong zu informieren. Was er gesehen hat, gefällt ihm: Die Arbeitsqualität entspreche jener in China oder übertreffe diese sogar, was nicht verwunderlich sei, da die Beschäftigten ihre Arbeit als nationale Pflicht betrachteten. Dennoch möchte er nicht alles auf eine Karte setzen und höchstens einzelne Teile in Nordkorea herstellen lassen: «Was ich befürchte, ist weniger der Verlust des investierten Kapitals als vielmehr einen Unterbruch der Lieferungen», sagt er und verweist auf die politischen Unwägbarkeiten. «Was, wenn plötzlich die Grenzen geschlossen werden?»

Ein weiteres Problem sieht er in den Restriktionen mancher Länder – beispielsweise der USA – gegen Waren «made in Nordkorea». Und auch Konsumenten könnten eines Tages den Kauf solcher Waren boykottieren. Die Trümpfe, nämlich die Steuergeschenke und die Tiefstlöhne, mit denen die Sonderzone Kaesong ausländische Investoren anlockt, stechen bei MBT nicht: «Wir gingen 2005 nicht wegen der Löhne nach China, sondern wegen der Kapazitäten und des Know-how», sagt Bartholet.

Heute produziert MBT vor allem in China und Vietnam, wo rund 10 000 Beschäftigte an der Herstellung des Schafts, also des Oberteils der Schuhe, arbeiten. Die Sohlen werden von weiteren 400 Beschäftigten in Südkorea fabriziert, teilweise im eigenen Werk in Busan. Die Endmontage findet zum Teil dort statt, zum Teil wiederum in China und Vietnam. Von dort werden die Schuhe in die weite Welt verschickt. Die wichtigsten Absatzmärkte sind neben der Schweiz Deutschland, Österreich, Grossbritannien und die USA.

Das noch junge Unternehmen produziert Spezialschuhe, die eine natürliche und gesunde Haltung wie beim Barfussgehen versprechen. Heute sind sie in diversen Modellen und Farben auf dem Markt und kosten rund 300 Franken. Entwickelt wurde die Masai-Barfuss-Technologie Ende der Neunzigerjahre von Karl Müller im thurgauischen Roggwil. Kürzlich verkaufte er die Firma an den österreichischen Ex-Skifahrer Klaus Heidegger und weitere Partner. Bartholet ist Mitglied der Geschäftsleitung und insbesondere für die Produktion und die industrielle Entwicklung verantwortlich.


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