Die graue Maus entpuppt sich als bunter Vogel


Bundesrat Joseph Deiss: Indien-Marathon

Indien Deiss Collage grossDer Schein trügt: Der wahre Deiss ist nicht nur diszipliniert, kompetent und blitzgescheit, sondern auch charmant und witzig. Auf seiner Indienreise liess ihn CASH nicht aus den Augen. Ein exklusiver Blick hinter die Kulissen.

Kalkutta. Die Luft ist stickig-feucht, das Thermometer zeigt 30 Grad. Joseph Deiss ist auf dem Weg vom Flughafen ins Hotel. Es ist Donnerstag, 19. Januar 2006, 13.40 Uhr. In Gedanken geht er nochmals die erste der insgesamt zehn Reden durch, die er auf seiner Indienreise halten wird.

Derweil herrscht Unruhe im Hotel «Sonar Bangla Sheraton», wo er zum Lunch geladen hat. Über hundert Gäste warten auf den Wirtschaftsminister aus der Schweiz. Aber in Indien ist man geduldig. Und es hat sich rasch herumgesprochen, warum der Gastgeber noch nicht aufgetaucht ist: Sein Flug hatte fast drei Stunden Verspätung.

«Da ist Software aus der Schweiz drin.» – Deiss zu Sanjay Jalona, Top-Manager beim Softwareriesen Infosys, als er ihm zwei Packungen Lindt-Schokolade überreicht.

Rückblende: Keine 24 Stunden ist es her, seit Deiss an der Bundesratssitzung für das Freihandelsabkommen mit den USA gekämpft hat. Vergeblich. Das gleiche Kollegium, das ihn damit beauftragt hatte, liess ihn auflaufen. Deiss schluckt den Ärger hinunter. Erstens gehört das zu seinem Job, zweitens ist heute sein 60. Geburtstag, und drittens fliegt er nach Indien. «Das ist wohl das Beste, was ich an meinem Geburtstag machen konnte», wird er später sagen.

Um in Bern ja nichts zu versäumen, verzichtete er auf den Swiss-Direktflug und wählte den Umweg via Frankfurt mit Air India. Begleitet wird er von seiner Frau Babette, seiner persönlichen Mitarbeiterin Monika Rühl, seiner Sprecherin Evelyn Kobelt sowie von Jörg Reding und Anne-Pascale Krauer vom Staatssekretariat für Wirtschaft. Der Flug dauert acht Stunden. Deiss versucht zu schlafen.

Landung in Bombay. Die Bundesratssitzung ist vergessen. Jetzt kann er kurz seinen Geburtstag feiern, bei Kaffee und Kuchen im Hotel «Leela Kempinski». Deiss duscht und zieht sich um, bevor es weitergeht. Nochmals zwei Stunden in der Luft.

«Das Team Schweiz/Indien hat im Doppel gegen China gewonnen.» – Deiss in seiner Ansprache bei ABB India in Bangalore zu den Erfolgsaussichten der Partnerschaft der beiden Länder.

Und nun also, 24 Stunden nach dem Schlagabtausch im Bundesrat, steigt Deiss vor dem Hotel in Kalkutta frisch und munter aus dem Wagen. Indische Journalisten und Fotografen umringen ihn. Keine Zeit, sein Zimmer aufzusuchen. Die Gäste warten. «Ich wasche mir nur noch rasch die Hände», sagt er und verschwindet für wenige Augenblicke in der Toilette. Dann steht er auf dem Podest und lobt den Handel zwischen Indien und der Schweiz und dessen grosses Potenzial. Fürs Essen bleibt nicht viel Zeit, und aufs Dessert verzichtet Deiss sowieso fast immer. Noch ein bisschen Smalltalk am runden Tisch – «Nein, ich bin nicht müde, es ist so spannend, und in Hongkong haben wir ja auch sehr wenig geschlafen, nur etwa 30 Stunden in einer Woche» – und weiter gehts ins Salt Lake Stadium, zum internationalen Partnerschaftsgipfel des Industrieverbandes, zur nächsten Rede. Thema: Der Handel mit Dienstleistungen. Unterwegs überfliegt er die Presseschau aus Bern. «Bundesrat stoppt Deiss», titelte «Der Bund» zum gescheiterten Freihandelsabkommen. Die Schlagzeile stimmt. Deiss nimmts gelassen, er kann schon wieder darüber lachen.

Der Sechzigjährige kennt keine Pausen. Es folgt ein Arbeitsgespräch mit der mitgereisten zwölfköpfigen Wirtschaftsdelegation aus der Schweiz, die hier im Schlepptau des Bundesrats das Terrain für die Schweizer Exportindustrie ebnen will. Dann Gespräche mit Journalisten, Interviews für Radio und Fernsehen, ein Gedankenaustausch mit dem Regierungschef der Provinz Westbengalen, das Abendessen mit Josef Eisele, dem Schweizer Generalkonsul in Bombay. Und noch ist der Tag nicht zu Ende: Zur besten Sendezeit in der Schweiz – die Zeitdifferenz beträgt viereinhalb Stunden – spricht Deiss live im Radio Suisse Romande. Dann endlich, um 23.30 Uhr, kann er sich auf sein Zimmer zurückziehen. In diesem Tempo gehts weiter, täglich, von früh bis spät: vier Städte, fünf Tage, sechs Nächte – wovon zwei im Flugzeug. Tags darauf in Bangalore: Deiss und seine Entourage residieren an der besten Adresse, im Hotel «Taj West End». Noch vor wenigen Jahren war hier ein Zimmer für 150 Dollar zu haben. Mit dem IT-Boom – Bangalore gilt als Silicon Valley Indiens – sind die Preise explodiert. Heute kostet ein Zimmer 350 Dollar. Am Abend wirds wieder spät. Angesagt ist ein Poolside Buffet Dinner für die lokale Business Community inklusive ortsansässiger Schweizer. Auch das obligate Käsefondue fehlt nicht – und das in dieser Hitze. Deiss ist in Hochform. Er liebt das Reisen und seinen Job. So weit weg von Bern blüht er auf. Das politische Parkett scheint seine Heimat zu sein. Den trockenen Wirtschaftsprofessor hat er abgestreift. Hier fühlt er sich verstanden. Hier anerkennt man den wirtschaftlichen Spitzenrang der Schweiz. Samstag, 21. Januar, 6.50 Uhr. Im tropischen Garten des «Taj West End» übertönen die Vögel alle andern Geräusche. Auch der Lärm der ständig verstopften Strassen ist hier kaum zu vernehmen, einzig das Hupen der ungeduldigen Fahrer dringt bis in diese VIP-Oase. Deiss ist einer der Ersten, die wach sind – wie jeden Morgen. Heute schwimmt er ein paar Längen im Pool. Es ist der einzige Tag, an dem kein Flug ansteht. «Sonst mach ich am Morgen im Zimmer Turnübungen.»

«Ich reise 24 Stunden vor dir in die Schweiz, um in Davos für dich ein Zimmer zu heizen.» – Deiss zu seinem indischen Amtskollegen, Wirtschaftsminister Kamal Nath.

«They rise early but wake up late», sage man in Indien über die Schweizer, erzählt Dominique Dreyer, Botschafter in Delhi. Für Deiss gilt das nicht. Er steht nicht nur früh auf, sondern ist auch früh wach: Frühstück, Zeitungen lesen, Internet. Deiss ist unheimlich diszipliniert. Kofferpacken entfällt heute. Er macht alles selber, er ist in all seinen Dossiers sattelfest, oft kennt er sie besser als die Sachbearbeiter. Und wenn er am frühen Morgen ins Büro kommt, ist er bereits informiert. Das ist hier nicht anders. Das Handy immer griffbereit am Gürtel, telefoniert er in jeder freien Minute mit dem Bundeshaus. Swisscom ist ein Thema. Bern erwartet Antworten, denn am Mittwoch wird der Bundesrat festlegen, wie er sich als Mehrheitsaktionär verabschieden will. «Schade», sagt Deiss, als er von Jens Alders Rücktritt hört. Von einer Gratis-Volksaktie hält er nichts.

Im Sportteil einer indischen Zeitung findet er den Einstieg in seine Rede, die er zur Eröffnung des neuen Forschungszentrums von ABB India halten wird: Am Australian Open hat Martina Hingis im gemischten Doppel an der Seite eines Inders zwei Chinesen geschlagen. «Auch ABB India ist beispielhaft für die Zusammenarbeit zwischen Indien und der Schweiz.» Matchball und Sieg für Deiss. An den vorbereiteten Text hält er sich selten. Er spielt gekonnt auf der diplomatischen Klaviatur. Die ABB-Belegschaft ist an diesem freien Samstag vollzählig erschienen – unbezahlt. Deiss: «Danke, dass Sie hier sind. In der Schweiz gibts nämlich für Arbeit am Wochenende sogar Lohnzuschlag.» Applaus.

Was ihm wichtig ist, kritzelt er in ein kleines, schwarzes Büchlein: Namen, Schlüsselbegriffe. «Für meine Mitarbeiter ist es ein Horror, dass ich das Büchlein verlieren könnte», sagt er. Für das Treffen mit seinem Amtskollegen Kamal Nath – «wir verstehen uns gut, er ist mein Freund» – hat er notiert: Korruption, Bürokratie, Patentschutz, Steuern, Zölle, Wettbewerb, Lizenzen, Landerechte – aber auch: Landwirtschaft, WEF Davos.

«Ich habe nichts zu verzollen – die Gedanken sind zollfrei.» – Deiss zu den Zollbeamten bei seiner Ankunft am Flughafen Zürich.

Delhi, 23. Januar, 18.00 Uhr: Nur wenige Stunden vor dem Rückflug – der diplomatische Höhepunkt: Treffen mit Staatspräsident Abdul Kalam. Der kleine Mann mit dem grossen Charisma wirkt trotz seiner 74 Jahre hellwach und vertraut mit allem, was die Welt bewegt. Deiss wird – fürs Protokoll – als «Expräsident der Schweiz» vorgestellt. Das Gespräch streift ernste Themen, die Stimmung bleibt locker. Kalam ermuntert die Schweizer zu verstärktem Engagement in Indien. «Das Handelsvolumen wird sich in wenigen Jahren verfünffachen», ist er überzeugt.

Delhi Airport, 24. Januar, 1.40 Uhr. Zufrieden und etwas müde steigt Deiss ins Flugzeug, Sitzplatz 6D, an der Lehne der «Please do not disturb»-Kleber. Morgen ist wieder Bundesratssitzung.

Cash, 2.2.2006 (PDF)

Legenden zur Bildcollage oben (von links): 

Bangalore: Herzlicher Empfang durch die Mitarbeiter der Maschinenbaufirma Bühler.

Kalkutta: Nicht einmal die Presseschau aus der Schweiz macht Deiss heiss.

Auftakt zum diplomatischen Höhepunkt: Ein Bediensteter des indischen Staatspräsidenten Kalam steht vor dem Palast in Delhi bereit, als der «Expräsident der Schweiz» pünktlich um 18 Uhr vorfährt.

Eine halbe Stunde beim Präsidenten: Lockere Atmosphäre trotz ernster Themen.

Ein ungezwungener Abend: Babette und Joseph Deiss posieren mit einer Tänzerin.

Deiss mit seiner persönlichen Mitarbeiterin Monika Rühl.

Tägliches Kofferpacken gehört dazu – auch für einen Bundesrat.

Das Handgepäck ist alles da, fünf Stück – aber wohin damit?


Schweizer Firmen fordern bessere Bedingungen

Indien Deiss WirtschaftsvertreterAlexandre Jetzer, Verwaltungsrat bei Novartis und «Aussenminister» des Pharmakonzerns, spricht vor Vertretern der indischen Regierung Klartext: «Die Importzölle müssen runter, damit wir die Medikamentenpreise für Patienten senken können.» Wirtschaftsminister Kamal Nath ist zwar gewillt, weiter zu liberalisieren, aber Indien ist – anders als China – eine Demokratie, und ohne Parlament geht gar nichts. Und ist ein Gesetz erst einmal in Kraft, scheitert die Umsetzung oft an Traditionen und Korruption. In dieser Situation ist die Schweiz auf Verbündete wie Kamal Nath angewiesen. Oder wie sich Joseph Deiss ausdrückt: «Es geht nicht darum, auf den Tisch zu hauen, sondern darum, möglichst effizient voranzukommen und Goodwill zu schaffen.» Zu viel Druck wäre schlecht, denn Indien ist auf die Schweiz weniger angewiesen als umgekehrt. Dies zeigt ein Blick auf die Handelsbeziehungen: Rund 130 Schweizer Unternehmen sind in Indien aktiv, weit mehr als umgekehrt. Und es besteht ein Handelsbilanzdefizit: Indien hat in der Schweiz letztes Jahr für rund 1,2 Milliarden Franken eingekauft. Umgekehrt waren es nur 800 Millionen.

Mit Jetzer sind elf weitere Wirtschaftsvertreter nach Indien gereist. Jeder verfolgt seine Interessen: Die UBS will expandieren, bangt aber um Lizenzen. ABB will in Indien vermehrt forschen und entwickeln, bangt aber um die Geheimhaltung. Bühler baut Reismühlen, leidet aber unter hohen Zöllen und Steuern.

Im Bild (von links, sitzend): Sushil Premchand (Preroy AG), Anne-Pascale Krauer (Seco), Hans Ulrich Beyeler (SR Technics), Thomas Isler (Gessner AG), Adalbert Durrer (UBS) und Peter Schmid (CSG).


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