Der Blick am Morgen in den Blick am Abend
Als Journalist, der für eine richtige, echte Zeitung schreibt, kann ich es kaum fassen: Da schleppen sich am Morgen müde Geister auf die S-Bahn, um zur Arbeit zu fahren. Und sie schnappen sich einen Blick am Abend – vom Vorabend, und sie LESEN ihn. Zumindest tun sie so. Mehr noch: Sie starren in die Postille, als ob sie darin die letzten Weisheiten der Menschheit finden würden, als ob sie den Durchblick hätten. Wahrscheinlich hatten die gleichen müden Geister den gleichen Blick am Abend schon am Vorabend in der Hand, beziehungsweise vor den Augen. Wahrscheinlich hat er ihnen schon damals den Blick auf die Welt versperrt. Aber sie merken es nicht.
Wenn die müden Geister Glück haben, ist am Morgen noch ein 20-Minuten-Heftchen vom aktuellen Tag in der Box. Dann versinkt darin der trübe Blick, was weniger peinlich ist, aber nicht wirklich einen Unterschied macht. Ob Blick am Abend von gestern oder 20 Minuten von vorgestern: es ist einerlei. Hauptsache, die Augen können sich ausruhen. Sonst würden sie ja sehen, dass ein anderer müder Geist in der übervollen S-Bahn gern den Platz nebenan hätte – wo jetzt der eigene Rucksack liegt.
Versperrter Blick zur Welt wegen Blick am Abend, cooler Gedanke!
Ich mag den Blick am Abend, ich muss tatsächlich nicht in die gelangweilten und immergleichen Fratzen der anderen Pendler schauen und Sudoku, Bimaru und Kreuzwort machen die halbe Stunde Zugfahrt ebenfalls kürzer!